Ganvié: Eine Begegnung mit der Geschichte und dem Geist der Gemeinschaft
Die Geschichte Westafrikas ist untrennbar mit der Sklaverei verbunden. Auf Schritt und Tritt wird man hier mit der Vergangenheit konfrontiert – oft an Orten, an denen man es kaum vermutet. So geschah es heute Morgen beim Besuch des „Venedigs von Afrika“. Auch wenn der Vergleich ein wenig hinkt, nennen die Einheimischen ihre Siedlung Ganvié auf dem Lac Nokoué nahe Cotonou gerne so.
Dieser Ort berührt uns besonders, weil er so ganz anders ist als alles, was wir bisher auf unserer Reise besucht haben. Ganvié wurde komplett auf dem Wasser errichtet, um Schutz vor den Sklavenjägern zu bieten. Im 17. Jahrhundert war das Königreich Dahomey intensiv auf der Suche nach Menschen, um sie auf den Sklavenmärkten an die Europäer zu verkaufen. Doch die Tofinu entdeckten einen entscheidenden Umstand: Ein religiöses Tabu verbot es den feindlichen Kriegern, das Wasser zu betreten. Das machte den See zum sicheren Rückzugsort. Der Name Ganvié bedeutet sinngemäß: „Wir sind gerettet“.
Die Geschichtsbücher wissen viel über diesen Ort, doch gleichzeitig bleibt er ein sehr lebendiger, keineswegs musealer Raum. Ganvié lebt von und mit den Menschen, die hier vornehmlich vom Fischfang existieren. Uns Reisenden vermittelt der Ort einen Eindruck von einer Lebensweise, die wir so nicht kannten. Die offene Art der Bewohner nahm uns schnell ein; das Gefühl, nur Eindringlinge auf einer „Fotosafari“ zu sein, verflog sofort. Sie erlaubten uns einen kurzen Einblick in ihr Leben – wohl wissend, dass wir danach wieder verschwinden würden und sie für ihr Schicksal weiterhin selbst verantwortlich sind. Vielleicht ist es auch das Wissen, dass ihre Lebensweise auf dem Wasser sie bis heute vor den negativen Einflüssen der modernen Zivilisation schützt.
Wir durften als Touristen in ihre Welt eintauchen. Unser Boot bahnte sich einen Weg durch das Gewirr aus Wasserpflanzen und hunderten anderen Booten. Mädchen, kaum älter als 13 Jahre, manövrierten ihre Kähne mit langen Holzstaken sicher an den Pfahlbauten vorbei, um die Menschen mit Trinkwasser zu versorgen. Ihre kräftigen und zugleich graziösen Bewegungen waren so bewundernswert, dass ich fast Scham empfand: Wir, die wir als „verkümmerte Europäer“ bequem im Motorboot saßen und fast im gleichen Tempo an ihnen vorbeizogen.
Hier zählen keine Designerkleider oder Selfies. Hier zählt die Gemeinschaft, in der jeder eine Aufgabe übernimmt, um dem Ganzen zu dienen. Nur so können sie überleben. Selbst die Darbietungen der Jungen auf ihren Booten wirken hier einzigartig. Es sind zwar für Touristen eingeübte Vorführungen, doch sie geben uns wohlhabenden Besuchern einen Grund, das Portemonnaie zu öffnen. Das Wichtigste dabei: Sie bewahren ihren Stolz. Es ist kein Betteln, sondern eine synchrone Vorführung ihres Könnens. Auch ihrem König mussten wir huldigen – eine überlebensgroße Statue zeugt von der Bedeutung, die er noch heute für die Identität dieses Volkes einnimmt.
Sicherlich wollten sie uns auch dazu bewegen, Souvenirs mit nach Hause zu nehmen. Doch dies geschah so zurückhaltend und unaufdringlich, dass wir es als angenehme Abwechslung empfanden; es fühlte sich zu keinem Zeitpunkt wie eine reine Verkaufsfahrt an. Dieses Eintauchen in eine vergangene Geschichte hat mir wieder einmal gezeigt, wie wertvoll und einzigartig jeder Mensch ist – auch wenn wir das in Europa zeitweise aus den Augen verlieren.
Die Menschen hier leben in einem System, das uns wie aus der Vergangenheit erscheint, weil der Alltag auf dem Wasser ungleich mühsamer ist als auf festem Boden. Und doch hatten wir das Gefühl, dass sie dieses Leben bewahren wollen, weil ihre Gegenwart es so verlangt. Ein Leben inmitten all der Neuerungen, denen sie auch auf dem Lac Nokoué ausgesetzt sind, kann wahrscheinlich nur durch eine so starke Gemeinschaft funktionieren. Ein ausgeprägter Individualismus würde ihre Kultur wohl sehr schnell verschwinden lassen.
Selbst jetzt, während ich diese Zeilen schreibe und das Gesehene verarbeite, empfinde ich eine tiefe Ehrfurcht gegenüber diesen Menschen. Sie geben sich mit so wenig und ohne große Ansprüche der Gemeinschaft hin. Der Egoismus, wie wir ihn aus Europa kennen, ist in einer solchen Struktur nicht möglich – er würde die Gemeinschaft innerhalb kürzester Zeit zugrunde richten. Dieses Gefühl der gegenseitigen Verbundenheit spürte ich heute auf dem See von Nokoué ganz besonders.