Von Tafraoute Richtung Sidi Ifni
Mit dem Camper unterwegs zu sein bedeutet für uns weit mehr, als nur von Punkt A nach Punkt B zu fahren. Es ist ein kleines Stück Lebenskunst auf Rädern – eine Mischung aus Freiheit, Abenteuerlust und Organisation. Natürlich haben wir Navi und Straßenkarte dabei, doch in unserer heutigen Zeit sind es vor allem Apps wie Park4Night oder iOverlander, die unsere Reiserouten prägen. Während Park4Night uns in Europa und auch noch hier in Marokko treue Dienste leistet, wird iOverlander umso wichtiger, je weiter wir nach Süden reisen.
Doch keine Technik ersetzt die wichtigste Frage, die wir uns bei jeder Etappe stellen: Was wollen wir heute eigentlich erleben? Geht es um Landschaft und Kultur? Um einen schönen Platz zum Verweilen? Um Einkaufsmöglichkeiten – oder schlicht um den perfekten Ort für die Nacht? Das Navi zeigt uns die kürzeste Strecke, aber selten die schönste. Deshalb liegen Landkarte und unsere alten Reisebücher griffbereit. Noch wertvoller sind die Berichte anderer Abenteurer, die wir online verfolgen können. Denn die Welt verändert sich schnell: Strände, die vor zwei Jahren noch unberührt und einsam waren, sind heute vielleicht schon von Hotels und Restaurants gesäumt. Selbst kleine Gewohnheiten verändern sich – in Marokko haben wir gemerkt, dass Tee mancherorts bereits vom Kaffee verdrängt wird.
Die Fahrt Richtung Sidi Ifni versprach Abwechslung pur. Am Morgen stand ein Besuch bei den berühmten Blauen Steinen auf dem Programm. Jedes Mal faszinieren sie uns aufs Neue. Ihre Geschichte klingt fast wie ein Märchen:
1984 kam ein belgischer Künstler nach Tafraoute, beladen mit 18 Tonnen Farbe. Mit Hilfe von dreißig marokkanischen Feuerwehrmännern, ein paar Löschfahrzeugen und langen Schläuchen zog er hinaus in die großartige Granitwüste vor den Toren der Stadt. Dort besprühte er Felsen mit leuchtenden Farben – überwiegend in strahlendem UN-Blau, dazwischen Rosa, Grün und Schwarz. Auf einer Fläche von zwei Quadratkilometern verteilte er seine „Kunstwerke“. Unter sengender Sonne verblassten sie allmählich, doch vor einigen Jahren erbarmten sich die Feuerwehrmänner und malten sie erneut nach. Der Künstler selbst hat sich nie wieder blicken lassen.
Weiter ging es durch sanfte Hügelketten, bis die Straße plötzlich zur Küste hin abtauchte. In langen Schwüngen schlängelte sie sich am Atlantik entlang. Hinter jeder Biegung eröffnete sich ein neues Bild: endlose grüne Hänge, einsame Buchten, Strände, an denen einzig das Tosen der Brandung und das Kreischen der Möwen zu hören war.
Ein besonderes Ziel hatten wir fest eingeplant: Legzira Beach, weltberühmt für seine gewaltigen Felsbögen. Fast jeder hat schon ein Foto gesehen – zwei mächtige rote Bögen, die sich wie riesige Tore ins Meer wölbten. Doch einer von ihnen stürzte im September 2016 nach Jahren der Erosion ein. Der verbliebene Bogen ist noch immer spektakulär, aber man spürt, dass auch seine Tage gezählt sind. Das Gestein ist brüchig, kleine Brocken lösen sich ständig – die Zeit nagt unaufhörlich.
Auf dem Weg legten wir noch einen Stopp in Tiznit ein. Die kleine Stadt empfing uns mit ihrem typisch marokkanischen Charme: enge Gassen, der Duft von Gewürzen, das Stimmengewirr der Händler. Unser Wirt verwöhnte uns mit einem köstlichen Mittagessen – und legte großzügig nach: drei Bier, Rosen für die Frauen und ein Dessert, alles inbegriffen. Für gerade einmal 25 Franken – wir staunten nicht schlecht.
Am Nachmittag erreichten wir Legzira. Schon von oben auf den Klippen wirkte der Blick überwältigend: das rötliche Gestein, das im Sonnenlicht fast zu glühen schien, während die Wellen unermüdlich gegen den Strand schlugen. Natürlich wollten wir näher hinunter. Doch unser Schuhwerk – Sandalen und marokkanische Halbschuhe – war denkbar ungeeignet. Jeder vernünftige Mensch hätte wohl den Kopf geschüttelt. Aber wir ließen uns nicht abhalten. Mit Rutschen, Schrammen und kleinen Stürzen kämpften wir uns nach unten. Zum Glück ohne ernste Blessuren.
Unten angekommen standen wir ehrfürchtig vor dem Bogen. Er wirkte wie ein Naturdom, eine Kathedrale aus Stein, unter deren Gewölbe das Meer mit donnerndem Klang sein ewiges Lied spielte. Gleichzeitig spürten wir die Vergänglichkeit – immer wieder lösten sich kleine Steine aus der Decke. Eigentlich müsste hier Helmpflicht gelten. Doch Touristen, uns eingeschlossen, wagen es trotzdem, im Schatten dieses Giganten zu verweilen.
Der Rückweg über einen längeren, sanfteren Pfad entsprach dann eher unserem Schuhwerk und ersparte uns weitere Stürze. Der Abend verlief friedlich. Ein kleiner Imbiss im Camper, draußen der Sonnenuntergang, der Meer und Felsen in ein warmes, goldenes Licht tauchte. Wir saßen noch ein wenig draußen, bis die Nacht hereinbrach, und zogen uns schließlich ins Fahrzeug zurück. Mit Starlink wurde Lesen und Surfen im Internet zum gewohnten Ausklang – selbst hier, am Rande der Welt, mit erstaunlicher Geschwindigkeit.
Doch dann, kurz nach 23 Uhr, ein unerwartetes Geräusch: ein lautes, kräftiges Klopfen an der Tür. Sofort waren wir hellwach. Für einen Moment dachten wir an einen schlechten Scherz. Doch im Fenster erschien das Bild eines uniformierten Polizisten. Ernst, aber nicht unfreundlich, fragte er, ob wir hier übernachten wollten. Ich bejahte. Dann erklärte er, dass es am Morgen Vorfälle gegeben habe – Details nannte er keine. Doch sein Rat war klar: besser auf einen bewachten Platz oder gleich zum Campingplatz in Sidi Ifni fahren.
Wir beschlossen, seiner Empfehlung zu folgen. Und dann geschah etwas, das uns überraschte: Die Polizei eskortierte uns die letzten Kilometer. Blaulicht voraus, wir hinterher – ein Gefühl von Sicherheit, das wir so noch nie erlebt hatten.
Kurz nach Mitternacht erreichten wir den Campingplatz von Sidi Ifni. In der Schweiz wäre längst alles verschlossen gewesen. Doch hier empfing man uns mit einem Lächeln, als wäre es das Normalste der Welt, Gäste zu dieser Stunde willkommen zu heißen.
So endete ein Tag voller Eindrücke – vom Abenteuer am Legzira-Bogen bis zur nächtlichen Polizeieskorte – mit einem Gefühl von Dankbarkeit und Staunen über dieses Land, das uns immer wieder überrascht.