Die blutenden Klippen von Accra – Ein Blick in den Abgrund unserer Kleiderspenden
Wir sind in Accra angekommen. Unser Ziel: Das vorletzte Visum unserer Reise zu ergattern – das Visum für die Demokratische Republik Kongo. Doch der Weg in die Stadt war alles andere als einfach. Von unserem idyllischen Strandplatz bei den Fischern aus war es eine gefühlte Ewigkeit. Überall wird gebaut, neue Straßen entstehen, und wir mussten uns mit unserem Fahrzeug über holprige Pisten kämpfen, ständig umgeben von dichtem, staubigem Verkehr und der drückenden Hitze der Großstadt.
Endlich in Accra angekommen, war der Antrag schnell gestellt – am Dienstag dürfen wir das Visum abholen. Doch wo sollten wir bleiben? In der hektischen Innenstadt gab es für uns als "Overlander" mit unserem Fahrzeug absolut keine Möglichkeit, einen sicheren Standplatz für die Nacht zu finden. Also entschieden wir uns, die 9 Kilometer runter durch die Stadt an ihre Küste zu fahren, an den Strand von Accra.
Das Idyll
Die trügerische Idylle Wir hatten von einem schönen Restaurant gehört, das Overlandern erlaubt, auf ihrem Parkplatz zu übernachten. Mit voller Euphorie fuhren wir dorthin – die Aussicht auf Meeresbrise und Ruhe war verlockend. Und tatsächlich: Der Platz war genau wie beschrieben. Wir wurden freundlich empfangen und durften uns auf dem Parkplatz einrichten. Auf den ersten Blick war alles perfekt.
Doch wir reisen nicht allein. Adia ist dabei, und wer mit Hund reist, weiß: Man kann nicht einfach die Augen verschließen und sich im Fahrzeug verkriechen. Wir müssen raus, die Umgebung "beschnuppern". Drei bis vier Spaziergänge am Tag sind Pflicht. Also zwängten wir uns durch das kleine, unscheinbare Tor, das vom Parkplatz direkt an den Strand führte.
Schon der Blick von oben über die kleine Klippe hatte uns gewarnt: Der Strand sah schmutzig aus, übersät mit dem Zivilisationsmüll, den das Meer anspült. Aber wir wollten uns die Beine vertreten und stiegen hinab.
Die Wand
Die Entdeckung der Wand
Wir liefen am Wasser entlang. Der Sand unter unseren Füßen fühlte sich seltsam an – dunkel, fast schwarz und ungewöhnlich fest. Vor uns, dort wo das Land eigentlich sanft in den Ozean übergehen sollte, erhob sich plötzlich eine Wand. Es war eine schroffe Abbruchkante, die sich wie eine offene, hässliche Narbe kilometerweit durch die Küstenlinie zog. Stellenweise ragte sie zwei bis drei Meter hoch auf.
Aus der Ferne hielten wir es für eine seltsame geologische Formation. Wir sahen Schichten, dunkle Streifen, die sich waagerecht durch die rötliche afrikanische Erde zogen. Aber als wir näher kamen, wich unsere geologische Neugier einem kalten Entsetzen. Was wir dort sahen, war so eindrücklich und verstörend, dass uns buchstäblich der Atem stockte.
Ich stand direkt vor dieser Wand. Ich streckte die Hand aus, zögerte, wollte es eigentlich nicht berühren, musste es aber verstehen. Die dunkle Masse, die diese Klippe bildete, war kein Gestein. Es war auch kein Lehm. Es war eine massive, unter tonnenschwerem Druck zusammengepresste Schicht aus Textilien.
Es waren Tausende, vielleicht Millionen von Kleidungsstücken, die hier unter der Erde zu einer festen Substanz verschmolzen waren. Aus der vom Meer unterspülten Wand hingen sie heraus wie die Wurzeln toter Bäume oder wie graue, schlaffe Tentakel: Ärmel von verwaschenen Hemden, Hosenbeine von Jeans, deren Blau längst vom Salzwasser gefressen war, Fetzen von synthetischen Stoffen, die sich niemals zersetzen werden.
Wir blickten auf einen archäologischen Schnitt durch unsere globale Konsumgesellschaft. Schicht für Schicht. Jahr für Jahr.
Das falsche Fundament Mein Blick wanderte nach oben zur Kante der Klippe. Was ich dort sah, bestätigte meinen schlimmsten Verdacht. Ganz oben, auf dem Scheitelpunkt dieses Müllbergs, balancierten schwere, zerbrochene Betonplatten. Sie ragten gefährlich ins Leere, kurz davor, abzustürzen.
In diesem Moment verstand ich schlagartig, was hier passiert war. Mein Gefühl hatte mich nicht getäuscht. Das hier war keine frische, wilde Müllkippe. Das war Land, das man einst künstlich "gewonnen" hatte. Man hatte den Müll der Welt genommen – unsere alten Kleider –, ihn in die Senken und Lagunen der Küste gekippt, etwas Erde darüber geschoben und schließlich Beton darauf gegossen, um Straßen oder Gebäude zu errichten. Man hatte das Problem buchstäblich unter den Teppich gekehrt und darauf gebaut.
Das Meer lässt sich nicht betrügen
Doch das Meer lässt sich nicht betrügen.
Die Flut kommt, Welle um Welle. Das Wasser greift die weichste Stelle an: die Basis aus Textilien unten am Strand. Es höhlt die Wand aus, zieht die alten Kleider heraus ins offene Wasser. Und oben verlieren die schweren Betonplatten ihren Halt. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis sie donnernd in die Tiefe stürzen und noch mehr von der eisigen Wahrheit freilegen.
Woher kommt dieser Wahnsinn? Wir standen lange da und starrten auf diese Wand aus "Obroni Wawu" – so nennt man hier in Ghana die "Kleidung des toten weißen Mannes".
Was wir hier sehen, ist das Ende einer Kette, die bei uns zuhause beginnt. Die Quelle liegt oft nur wenige Kilometer entfernt, auf dem Kantamanto-Markt in Accra. Jede Woche kommen dort ca. 15 Millionen Kleidungsstücke aus Europa, den USA und Kanada an. Aber die Qualität von "Fast Fashion" ist mittlerweile so schlecht, dass geschätzt 40 % dieser Importe direkter Müll sind. Kaputt, fleckig, untragbar.
Weil es keine Müllverbrennungsanlagen gibt, landet dieser Abfall in den Kanälen. Der Regen spült ihn in die Korle-Lagune und von dort direkt in den Atlantik. Das Meer "spuckt" es dann wieder aus – genau hier, vor unsere Füße. Für die Fischer von Jamestown ist das eine Katastrophe: Sie ziehen oft Netze voller nasser, bleischwerer Jeans aus dem Wasser statt Fische.
Ein bitteres Erwachen Mir wurde dort am Strand klar: Wir sind schuld an dieser Misere. Wir, die wir glauben, etwas Gutes zu tun, wenn wir unsere alten Sachen in die Altkleidersammlung werfen. Wir beruhigen unser Gewissen im Glauben, dass die Kleidung an arme Bedürftige geht. Aber die Realität vor Ort sieht anders aus. Wir exportieren unseren Müll einfach nur in Länder, die keine Infrastruktur haben, um damit fertig zu werden.
Glauben an das "Gute" der Altkleidersammlung
Diesen Glauben an das "Gute" der Altkleidersammlung habe ich hier verloren. Für mich steht fest: Wenn ich in Zukunft Kleider habe, die wirklich ausgetragen sind, werde ich sie nicht mehr in den Container werfen. Ich werde sie lieber der heimischen Kehrichtverbrennung (KVA) zuführen, wo sie fachgerecht entsorgt und in Energie verwandelt werden, statt hier die Strände zu vergiften.
Oder noch besser: Wir machen uns unsere Putzlappen selber daraus. So bekommen die alten Hemden noch einen letzten, echten Sinn, bevor sie ihren Weg gehen.
Bitte helft mit! Das, was wir hier mit eigenen Augen gesehen haben, ist es wert, darüber nachzudenken und sich an der eigenen Nase zu nehmen. Es liegt an uns, diesen Kreislauf zu durchbrechen.
Nachtrag
Ein Punkt liegt mir noch besonders am Herzen.
Auf dieser Reise suchen wir eigentlich die schönen, bewegenden Momente – Begegnungen, an die wir uns später gerne erinnern. Und meistens finden wir genau das. Viel lieber würde ich nur solche Geschichten mit euch teilen, um euch ein Lächeln zu schenken.
Doch hier kann ich nicht wegschauen.
Ich muss davon erzählen, weil es wichtig ist und weil wir alle – oft ohne es zu wissen – Teil dieses Problems sind. Die Idee der Kleidersammlungen war einmal gut und sinnvoll. Was heute in vielen Fällen daraus geworden ist, ist jedoch nur noch traurig: Berge von billiger Wegwerfmode landen in Ghana, überfluten Märkte, zerstören lokale Strukturen und enden meist als Müll.
Bitte denkt nach, bevor ihr Kleider entsorgt oder spendet.
Vielleicht ist es ehrlicher, sehr günstige Fast-Fashion-Stücke direkt im Hausmüll zu entsorgen. Sicher ist: Billigkleider gehören nicht mehr in die Sammelstelle.
Danke, wenn auch ihr mithelft, indem ihr bewusst entscheidet, was wirklich weitergegeben werden kann – und was am Ende hier mehr schadet als hilft.





